Von einem der Auszog aus seinem warmen Häuschen in Puchheim-Ort und sich durch seinen Ausflug durchs unwegsames Gelände seine Erleuchtung fand.
Am frühen Morgen des 13. 12. 2023 sollte die sportliche Fitness des alten Paares gefordert, ja überfordert werden. Auf sie wartete ein Drama. Kurz nach 6 Uhr in Herrgotts Früh herrschte in Puchheim-Ort noch Dunkelheit. „Welchen Weg gehen wir heute? Hinter zur Kapelle?“ fragte die im 85. Lebensjahr stehende Frau. „Nein“, entgegnete entschlossen der Mann, der bereits 88 Jahre auf dem Buckel hatte. „Der Weg am Gröbenbach ist voller Dreck und steinig hart. Zudem ist es noch zu finster. Lieber wieder die Bahnhofstraße hinüber zur ‚Großstadt‘ des Ortes. Da hilft uns das düstere Licht der brennenden Laternen. Also los!“ Kurz darauf die Frau. „Schau, da rechts drinnen reflektiert sich das Morgenlicht in einem großflächigen weißen „See“. Der Mann negierte. „Rings um die Wasserfläche liegt noch ein Haufen Schnee.“ Sagt er. Die Frau widersprach. Dann gings hinüber bis zu den ersten Häusern des edlen Teils der Stadt. Umkehr. Zurück in das Dorf des Furchen-Adels. Die Uhr zeigt halb zwischen Sechsen und Sieben. Wieder trafen beider Augen das weiß glitzernde Rund etwa 15 bis 20 m vom Straßenrand entfernt. Nochmals die kecke Behauptung der Frau: „Das ist nur Wasser. Das sieht man doch! Dort schwimmen doch zwei Enten drin!“
Eine Provokation für den Herrn, der hinter ihr einher schlürfte. „Da liegt doch ganz sicher ein Haufen
Schnee rings um das Wasser herum. Das sieht man.“ „Nein“ So der sture Widerspruch von weiblicher Seite. Das empfand der Mann als trotzige Rechthaberei. „Der werde ich es beweisen!“ Dachte er. Spontan und draufgängerisch – in Erinnerung an seine jugendliche Leichtigkeit des Seins – betrat er die Wiese, die sich als Acker-Feld herausstellte. „Oh Gott, das ist ja alles ganz weich unter den Füßen.“ Es war Schwarzerde, ein Begriff, berühmt für diesen Teil der Felder – man nennt sogar die Straße dahin Schwarzäckerstraße. Ein vom Schicksal gewolltes Fehlurteil. Für den Achtundachtziger sollte sein dreister Versuch hier tatsächlich zum „schwarzen Tag“ werden. Je weiter er nämlich in Richtung der weißen Schnee-Wasser-Stelle kam, desto tiefer versank er im sumpfigen Dreck. Bis er, weit über die Knie im Schlamm steckend, nach vorne auf den Bauch fiel, mit dem Kopf knapp über der wässrig-kalten Schwarzerde, direkt vor dem Rand des weit ausladenden Wasserstümpels. „Oh! Schaurig ist’s übers Moor zu gehn!“ Das hatte doch die Droste von Hülshoff vor langer Zeit schon gewusst. Eine kluge Dichterin. Viel klüger, als der alte Idiot, der sich seine kühne Verwegenheit von einst nochmals bestätigen wollte.
Hätte der Enkel Paul den Großvater auf dem Bauch im Schlamm der Furchen liegen gesehen, hätte er bestimmt seinen schon einmal ausgesprochenen Tadel wiederholt: „Ach Opa, mach‘ doch nicht immer solchen Blödsinn!“ Doch das war erst der Introitus des Unheils. Der Mann lag auf dem Bauch, zunächst unfähig sich zu bewegen. Die Frau rief: „Ich komm Dir zu Hilfe!“ Was sie auch tat. Mit erbärmlichem Erfolg. Sie kam in die Nähe des Alten und steckte auf der Stelle selbst bis über die Knie im Morast. Sie warf den ungeöffneten Schirm des Mannes nach hinten. Und machte sich daran, dem Gefallenen auf die Füße helfen. Vergeblich. Seine schweren Bergsteigerstiefel staken wie festgeschraubt in der Tiefe der feucht-schweren Erde. Er zog und zog im Morast der Furchen kniend seine bestiefelten Füße hoch, gestützt auf seinen Gehstock und auf einen Wanderstock, den ihm sein Weib anbot. Kein Erfolg. Trotz mehrmaliger Versuche. Ja, noch schlimmer. Der Mann konnte sich nicht umdrehen, im Gegenteil er geriet immer weiter nach vorne. „Pass auf, dass Du nicht mit dem Kopf in das Wasser kippst. Da ersäufst Du.“ Argwöhnte die besorgte Frau, laut kreischend. Weitere Versuche, mit aller Gewalt in dem tiefgründigen Sumpf zum Stand zu kommen, vergeblich. Nichts ging mehr. Die Kräfte waren weg, die Kniee taten weh. Das Herz hämmerte laut und schnell. Die Lust am Abenteuer war dem Senior längst vergangen. Jetzt merkte er arg beklommen, was Ohnmacht bedeutet. „Oh Ihr Geister des Himmels, habt Erbarmen!“ So etwa seine Gedanken.
Und in der Tat. Bei einem letzten Versuch gelang es dem Erschöpften, seinen Leib trotz der blei-schweren, feststeckenden Stiefel in Richtung Straße zu drehen. Auf dem Bauch liegend begann er dorthin zu robben, wobei er sich mit den behandschuhten Händen im Dreck vorwärts schob und die von der schweren, eiskalten Schwarzerde festgehaltenen Beine nach sich zog. Eine Wühlmaus, auch ein Maulwurf hätte sicherlich ein besseres Bild abgegeben. Dieses Bild, das der robbende Mann lieferte, sah – ein heller Lichtblick – von der Straße her eine junge Radlerin. Sie sprang von Gefährt. „Ja, was treiben denn Sie da drinnen?“ Auf ihre Frage mein Hilferuf. „Helfen Sie uns doch bitte!“ Was dies ohne Zögern tat. Sie ließ das Rad fallen und eilte in das Feld, worin sie sogleich selbst tief versank. Doch ihre Jugend verhalf ihr zu einem sichereren Stand. Sie wollte mich hochziehen, mehrmals ansetzend. Doch zu einem Gelingen fehlten der Dame die Muskeln. Die dem Mann von der Nase gerutschte Brille holte sie flink aus dem Schlamm und bewahrte sie ihren Anorak auf. Die Frau indes rang allein um Be-freiung aus dem Kampfgebiet. Mit bloßen Händen versuchte sie sich aus der Schwarzerdtiefe auszugraben, in die sie versunken war.
Als der geschundene Alte sich bäuchlings – mit den behandschuhten Händen sich in den Erdklumpen festkrallend – bis zum Straßenrand gerobbt hatte, tauchte ein radelnder Mann auf. Als der den in den Schwarzerdmassen Robbenden erblickte – ich muss ihm gewiss wie ein im Dreck suhlendes Wildschwein vorgekommen sein – , griff auch er sogleich helfend in das Geschehen ein. Beide Radler zogen gemeinsam den Ermatteten hoch und wollten ihn auf die Straße stellen. Doch dem kühnen Versager sackten die Knie weg. Er konnte nicht stehen. Man lehnte ihn an einen Baum. „Helft meiner Frau! Rettet sie!“ Zu solcher Sorge war das Herz des Mannes noch fähig. Schuldbewusst sah er der Rettungsaktion zu. Die beiden Helfer hatten Erfolg. Sie brachten die Alte mit Mühe auf die Fahrbahn. Wo sie sofort aufrecht stehen blieb. War ihre Kondition wirklich so viel besser? Zu den Helfern fand der Gerettete die Worte: „Sie sind die Engel der Landstraße.“ Die Frau bedankte sich bei den guten Leuten mehrmals. Doch die göttlichen Helfer verschwanden – nunmehr auch sichtbar verdreckt – auf ihren Rädern., ohne dass sie ihren Namen verrieten.
Das Drama war zu Ende. Noch nicht ganz. Die beiden Alten – auferstanden aus der Tiefe des Schwarzäcker-Sumpfes – sahen sich an und waren entsetzt. Der Mann glich einem Kaminkehrer, nur dass dessen Schwarz ein anständiges Schwarz ist. Die Schlammmasse rund um den vermeintlichen Schneesee war dagegen ein hässliches, glitschiges braunschwarzes Farbgemenge, das die helle Hose des Mannes in ein totales Dunkel gefärbt hatte. Der schwarze dickgefütterte Anorak war durch den Dreckaufstrich ebenso entstellt wie die gefütterten Lederhandschuhe. Das Outfit der Frau bot kein wesentlich attraktiveres Bild. Die Alten zogen nach Hause, letztlich siegreich dem Untergang entronnen – allerdings ohne die Brille und den Knirps des Mannes. Zwei Kollateralschäden des Sieges. Der Alte säuberte sich daheim leidlich und fiel im Sessel in Nu in bleiernen Schlaf. Die Frau dagegen hatte den Schaden. Ihr war es vom Schicksal auferlegt, in einer gewaltigen Säuberungsaktion alles Verdreckte zu reinigen: sich selbst, die Wanderstiefel, die Anoraks, die Hosen, die Stöcke, die Handschuhe, überhaupt alles, was man am Leib trug, da es nass oder feucht bis auf die Haut war,
Dafür hat die Frau den Aufstieg in das Reich der Götter verdient. Auf den Mann dagegen wartet der Sturz in den Tartaros, wo der Höllenhund Kerberos ihn mit seinen gefletschten Zähnen ständig bedroht, während er am Lethe, dem Fluss des Vergessens, durch den heiß dampfenden Schlamm zu robben gezwungen ist – in alle Ewigkeit.
Beitrag: Friedrich Maier, Puchheim-Ort
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